Tanja Luise Olbort
Tanja Luise Olbort
Das Mädchen Maria
Von Tanja Luise Olbort
Maria war ein einfaches Mädchen. 8 Jahre alt und lebte auf einem Bauernhof. Zusammen mit ihren Eltern, einem Hund namens Bodo, zwei Katzen (ohne Namen) einer Kolonie Hühner und jeder Menge Kühe. Sie liebte das Leben auf dem Land. Das Krähen des Gockels am frühen Morgen, das freundliche Muhen der Kühe wenn Sie gemolken wurden, den Geruch des Hofes. Es störte sie nicht, dass sie keine Spielkameraden hatte. Wenn Sie am Nachmittag aus dem Bus ausstieg musste sie noch zwei Kilometer zu Fuß gehen. Dann war sie zu Hause. Das nächste Haus war über drei Kilometer entfernt. Aber auch das störte sie nicht. Sie liebte ihr Leben.
Nachdem sie ihre Hausaufgaben gemacht hat spielte sie am liebsten mit Bodo Verstecken. Bodo war gut darin, er fand sie immer. Die Katzen hatten kein Interesse an dem Spiel. Kam Bodo in die Nähe, verschwanden sie flux. Vielleicht versteckten sie sich? Maria war sich da nicht so sicher. Zur Erntezeit half sie ihren Eltern beim Mähen und Dreschen des Korns. Das machte ihr viel Freude. Überhaupt, alles auf dem Bauernhof machte ihr Freude. Es wurde nie langweilig.
Doch eines Tages sollte sich ihr Leben schlagartig ändern. Sie spürte schon über einen Zeitraum von Wochen, daß etwas anders war. Ihre Eltern benahmen sich sonderbar. Papa, immer mit einem Lächeln im braungebrannten Gesicht, hatte Sorgenfalten auf der Stirn. Mit seinen rauen Händen strich er ihr immer noch jeden Morgen über das Haar, bevor sie zum Bus lief. Aber das Leuchten in seinen Augen fehlte, das Lächeln wirkte aufgesetzt. Überhaupt, er sah müde aus. Seine starken Schultern schienen etwas eingefallen zu sein, sein Gang nicht mehr ganz so aufrecht. Bildete sie sich das alles nur ein? Ihr Papa glich doch immer einer starken Eiche?
Aber auch ihre Mutter wirkte anders. Sie hatte oft rote Augen, so als ob sie geweint hätte. Wenn Maria sie darauf ansprach, drehte sie sich schnell um und fuhr mit dem Zipfel ihrer Schürze durch das Gesicht. „es ist nichts, Kind“ sagte sie dann „e sind nur die Zwiebeln“. Maria glaubte ihr nicht. Aber was sollte sie tun?
Die Eltern saßen oft bis spät in die Nacht am Küchentisch. Manchmal konnte Maria sie hören, aufgeregt, diskutierend. Sie schlich dann in das hölzerne Treppenhaus um zu hören, was in der Wohnküche gesprochen wurde. Sie konnte die Worte nicht verstehen aber irgendwann hörte sie ihre Mutter schluchzen. Maria tat das im Herzen weh. Es war kein Streit, das fühlte sie. Mama und Papa liebten einander und sie konnte spüren wie innig die beiden mit einander umgingen. Aber was war es dann? Sie sollte es bald herausfinden.
An einem Herbsttag kam sie zurück von der Schule. Das Wetter war nach schön und warm. Am Morgen war es schon eiskalt und sie trug die rote Mütze und die roten Handschuhe, die Mama ihr zu Weihnachten im letzten Jahr gestrickt hatte. Und eine dicke Jacke, die auch rot war. Rot war ihre allerliebste Lieblingsfarbe. Sie schwenkte ihre Tasche und pfiff ein Lied. So machte sie sich auf, von der Bushaltestelle nach Hause.
Als sie die Zufahrt hinauf lief sah sie einen Viehtransporter. „was ist das?“ dachte sie sich und ging einen Schritt schneller. Angekommen sah sie, wie ein Stück Vieh nach dem anderen aus dem Stall auf den Viehtransporter getrieben wurde. „halt, das dürfen Sie nicht“ schrie sie den Mann an, der soeben die Kuh Elsa in den Anhänger trieb. Dieser aber liess sich gar nicht beeindrucken und war schon auf dem Weg zurück in den Stall. Nun sah sie noch einen anderen kleinen Transporter, der alle Hennen und den Hahn in Gitterboxen einlud. „Stopp“, schrie sie, „Halt!“ und rannte in Richtung Transporter. Sie spürte plötzlich eine Hand auf ihrer Schulter, die sie zurück hielt. „Maria“ sagt Papa‘s Stimme „es geht leider nicht anders“.
Marie drehte sich herum und sah in Papas Gesicht. Traurige, müde Augen schauten sie an. Papa ging auf die Knie und schaute ihr direkt in die Augen. Und dann erzählte er ihr von dem Kredit für den Traktor, den sich nicht zurückzahlen konnten. Vom Viehhändler, der sie beim letzten Verkauf betrogen hatte. Von all den Anstrengungen und Mühen, die Mama und Papa in den letzten Monaten unternahmen, um den Hof zu retten. Von den Gesprächen mit der Bank und der Kündigung des Kredites. „Der Hof ist verloren, Maria“.
Maria konnte das nicht glauben. Ihr Heim, ihre Insel, ihr zu Hause – das alles sollte sie verlieren? Tränen schossen ihr in die Augen. Sie riss sich los und rannte in den Stall. Aber dort war kein Stück Vieh mehr zu sehen. Rüber in den Hühnerstall – auch hier gab es keine Henne mehr, keinen Hahn. „Bodo“ rief sie verzweifelt. „Booodooooo“.
„Wuff“ machte es und Bodo kam um die Ecke. Wenigstens ihr Freund war ihr geblieben. Sie umarmte Bodo und vergrub ihr Gesicht in seinem Fell. Niemand sollte die Tränen sehen, die ihr nun heiss die Wangen hinunterströmten. Sie war so traurig. Ihr Paradies sollte nicht mehr sein.
Nach einer Weile stand ihre Mutter neben ihr. „Maria“, sagte sie, „Ich weiss, es ist schwer. Aber wir müssen den Hof leider verlassen. Papa hat eine Arbeit in der Stadt gefunden. Du und ich, Papa und Bodo – wir ziehen in die Stadt. Du bist traurig, das kann ich verstehen. Aber bald wird es Dir dort gefallen. Und Du musst auch gar nicht mehr so früh aufstehen und mit dem Bus zur Schule fahren. Dir Schule ist ganz in der Nähe. Du wirst sehen, bald geht es Dir besser.“ Und sie nahm Maria in die Arme, welche bitterlich weinte.
Zusammen packten sie die Koffer und das restliche Hab und Gut und luden alles in den Kombi. Bereits am Abend sollte es in die neue Wohnung gehen in der grossen Stadt. Maria hatte Angst. Sie mochte die Stadt nicht. Riesige kalte Wohnblocks. Der Verkehr, der Lärm der Geruch. Das alles hatte ihr nie gefallen und nun bedrückte sie der Gedanken, mitten darin zu leben. Aber sie hatte keine andere Wahl.
Sie kamen am Wohnhaus an. Es war anders, als Maria es sich vorgestellt hatte. In einer kleinen Nebenstrasse hielten sie vor einem dreistöckigen Haus. Hier wohnten nur zwei Familien. Und Maria und ihre Eltern sollten in das Erdgeschoss einziehen. Sie schnappte Bodo an der Leine und ging forsch auf das Haus zu. Es sah gar nicht so beängstigend aus. Einladend sogar. Es hatte einen kleinen Vorgarten mit Büschen und Blumen und einem kleinen Lindenbaum. Der Anstrich war weiss, die Tür und die Fenster waren aus dunkelbraunem Holz. Das Dach war mit dunkelbraunen Schindeln bedeckt. Es sah recht freundlich aus. Sie ging mit ihrer Mutter hinein.
Und da war es noch schöner. Es gab ein helles Bad mit einer kleinen Wanne und die Küche war heimelig. Die Eltern schliefen in einem Raum links neben dem Eingang. Dann kam das Wohnzimmer, in einem freundlichen Gelbton gestrichen und mit einer Glastür, die auf eine Terrasse führte. Oh, wie war das schön. Hier gab es hinter dem Haus einen Rasen mit einer Schaukel, Blumen, einen Blaubeerenbusch, Spalierobst und auch einem schön gemauerten Grill. Das gefiel ihr.
Aber am allerbesten gefiel ihr das Zimmer, welches Mama ihr zum Schluss zeigte. Es war ihr Zimmer. Mama öffnete die Türe „das ist Dein Reich“. Und Maria verschlug es die Sprache.
Ein Zimmer in blau, türkis und weiss erwartete sie. Die Möbel waren weiß. Der Schrank, die Kommode, das Bett und der Nachttisch. Geschmückt mit hellblauen Häkeledeckchen, welche Mama für sie gemacht hat. Der Bettbezug war von klarem türkis. Das Zimmer erinnerte an ein Heim für Meerjungfrauen. Das war richtig toll. Sie sprang auf das Bett. Mmh, das war gemütlich.
Von draussen hörte sie Lärm, Kinderlachen. Auf der gegenüberliegenden Seite des Hauses war ein Spielplatz. Hier spielten Kinder. Sie hatten Spass. „Eckstein, Eckstein, alles muss versteckt sein“. Und schon rannten die Kinder weg. Einer stand mit bedecktem Gesicht vor der Kletterwand. Er wartete, bis alle sich versteckt haben. „Wie schön“ dachte Maria. „Zu Hause musste ich immer mit Bodo und den Katzen verstecken spielen“. Und sie dachte sich, wie schön es wohl sein mag, mit den Kindern zu spielen. „Geh doch mal rüber“ sagte Mama. „Die Kinder lassen Dich sicher mitspielen“.
Maria war unsicher. Sie war neu hier. Das Mädchen vom Lande. Mit ihren Freunden der Vogelscheuche auf dem Bauernhof, den Katzen und Bodo war es einfach zu spielen. Aber hier? Sie wartete eine Weile in ihrem schönen Zimmer und nach dem die Kinder immer wieder vor Freude jauchzend Versteck spielten, fasste sie sich ein Herz und ging hinüber.
Sie Stand am Rand des Spielplatzes und schaute zu. Klein machte sie sich, zog die Schultern nach unten. Sie war schüchtern. Auf einmal sah ein Mädchen mit kurzen schwarzen Haaren zu ihr rüber. Schaut mal, ein neuer Nachbar“ sagte sie und ging auf Maria zu. Maria war nervös, es schwitzten ihr die Hände „Hallo“ sagte das Mädchen. „Ich bin Stefanie. Du bist drüben in das Haus eingezogen, nicht wahr? Wie heisst Du?“ „Maria“, sagte Maria ganz leise. „Mein Name ist Maria“.
Stefanie nahm Marias Hand und sagte „Komm mit mir, lass uns spielen. Ich zeig Dir meine Freunde“. Und die Kinder spielten. Erst verstecken, dann Völkerball. Sie spielten „wer bin ich“ und erzählten sich Geschichten. Sie lachten und kicherten. Sie spielten zusammen bis es Zeit zum Abendbrot war und alle Mamas nach ihren Kindern riefen. Maria ging fröhlich nach Hause.
Nach dem Abendessen, als sie gewaschen und mit geputzten Zähnen im Bett lag, kam Mama um ihr gute Nacht zu sagen. „Und, Maria. Hattest Du einen schönen Tag?“ fragte sie Maria. Und Maria dachte nach. Nach all der Aufregung, all dem Schmerz über den Verlust des Bauernhofes hatte sie doch etwas wertvolles und neues gefunden: Freunde. „Ja, Mama. Ich hatte einen sehr schönen Tag. Und ich bin sicher, ich werde noch viele schöne Tage hier haben“. Sie drückte ihre Mama fest, drehte sich um und schlief mit einem Lächeln ein.
Ende.