Johannes Rüster

 

Jahreshauptversammlung


Endlich war ich am Ziel.

Die letzten zwei Tage hatten mich einiges an Nerven gekostet. Aber wer genug wusste, um am Picknick der Lukullbrüder teilnehmen zu wollen, ahnte zumindest, worauf er sich einlassen würde: Eine richtiggehende Schatzsuche hatten sie vorbereitet, die so manchen hoffnungsfrohen Jungschlemmer aus dem Rennen geworfen hatte. Von obskurem Winkel zu seltsamen Gestalten kam man da, wenn man die Rätsel, die sich allesamt um kniffliges Küchenwissen drehten, knacken konnte.

Aber nur zu wissen, wie man ein Kalbsbeuschel am raffiniertesten abschmeckt oder wo in Portugal das beste Fleur-de-Mer gewonnen wurde, reichte lange nicht. Die Vereinsoberen hatten sich anscheinend einen Spaß daraus gemacht, nicht nur Hirn, sondern auch Magen und Leber zu prüfen. Selten hatte ich so viel gegessen und getrunken. Immer gut, immer viel – so dass ich mich, als ich auf den schon gut gefüllten Parkplatz am Waldrand zufuhr, wunderte, warum ich mir überhaupt noch die Mühe machte.

Denn ich wusste nicht, was mich an Leckereien erwarten würde. Niemand wusste das: Waren die Lukullbrüder schon an sich ein so verschwiegener Haufen, dass man nur unter der Hand und vier Augen überhaupt von ihrer Existenz raunen hörte, so stand ihr Jahrestreffen unter noch viel größerer Geheimhaltung. Selbst mir, der immerhin schon einen mittleren Adeptenrang einnahm, kam keine Information von Wert zu Ohren, alles was ich mir aus den Bruchstückchen, die mir zugespielt wurden, zusammenreimen konnte, war, dass die sagenumwobene Mutter aller Delikatessen kredenzt werden sollte. Und wer auch nur bei einer kleinen Soirée für hoffnungsvolle Junglukulle teilgenommen hatte, konnte sich denken, dass da etwas unaussprechlich großartiges auf einen wartete, war doch schon die niederste Bruderschaftsriege Gaumenkitzel gewöhnt, die sich mit Kochmützen und Sternen kaum messen ließen.

So parkte ich meinen Wagen, hievte den schweren Leib heraus und hielt nach Berthold Ausschau. Meinem Kollegen hatte ich viel zu verdanken: Er war es, der mich nach einem Geschäftsessen beiseite genommen hatte, weil er von mein Kulinarwissen beeindruckt war. Eine halbe Stunde über die Feinheiten der Flaschenkorken-Produktion zu monologisieren, das hätte er auch noch nicht erlebt – außer eben bei den, und nichts weitersagen…

Da kam er schon auf mich zu, hagere 1,90 voller Erwartung bebend, war es doch auch für ihn das erste Jahrestreffen, zu dem er geladen war. „Der Cultrifex will dich sehen!“ rief er mir zu, kaum dass ich in Hörweite war. Das war ja mal interessant! Was konnte der Ordensoberste von mir wollen?

Ein ausgesprochen nervöser Berthold führte mich den Trampelpfad entlang zu einem kleinen Zelt. Kaum standen wir davor, da wurde schon von innen die Plane zurückgeschlagen und ein Mann sah heraus. Etwa siebzig Jahre alt und kahlköpfig, blickte er mich aus wässrigen hellblauen Augen an, die wohl eher unabsichtlich mit seinem mittelgrauen Dreiteiler harmonierten. So stellte man sich einen pensionierten Oberregierungsrat vor, der in seinem Leben mehr gestempelt als gelacht hatte. Das sollte der Cultrifex maximus sein, der Meister der Gaumenfreuden? Jedenfalls wirkte er so bacchisch wie ein Näpfchen Haferschleim.

„Von Ihnen habe ich schon viel gehört, mein Lieber…“ begann er, wobei er mich mit sonderbar traurigem Blick musterte. Er trat nun ganz aus dem Schatten des Zeltes: Grau in grau stand er vor mir, der einzige Farbtupfer seine rechte Hand, in der er er etwas verkrampft einen roten Apfel hielt.

Ich nahm meinen Mut zusammen. Mit trockenem Mund sprach ich ihn mit seinem traditionellen Titel an: „Cultrifex Maximus, Meister der Gaumenfreuden. Ich bin unendlich dankbar, am Ende meiner Prüfungen zu stehen. Ehe ich am Festmahl teilhabe – können sie mir bitte verraten, was es ist? Ich sterbe vor Neugier…“ Der letzte Teil war weniger traditionell, aber ich konnte mich vor Vorfreude kaum mehr beherrschen.

Er drehte bedächtig den Apfel in seinen Händen.

„Die Mutter aller Delikatessen ist unser größtes Geheimnis.“

Er betrachtete ihn, als sähe er ihn zum ersten Mal.

„Wir feiern damit den Anbeginn der Schöpfung und gedenken der Vertreibung Adams aus dem Paradies. ‚Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen’ sagte Gott, und so begann der Zwang, Essen zuzubereiten – aber auch die Kochkunst.“

Er schien den Apfel auf Druckstellen zu untersuchen.

„Diese Doppeldeutigkeit feiern wir jedes Jahr, indem wir gleichzeitig das Beste und Sündigste zu uns nehmen. Sie haben sich vielleicht gefragt, weshalb jedes Jahr auch nur ein einziger Proband aufgenommen wird…“

Konnte er diesen verdammten Apfel nicht einfach in Ruhe lassen? Und was sollte dieses Gerede vom Paradies? Als nächstes würde er mir erzählen, dass der Apfel etwas damit zu tun hätte, dabei sah jeder doch sofort, dass es eine eher minderwertige Sorte war, von der Art, wie man sie Spanferkeln in den Mund schob.

„Nun ja, wie soll ich es sagen…“ begann er wieder.

Sein hungriger Blick ging zwischen der Hand und mir hin und her.

„Apfel?“