Bastien Anderie-Meyer
Bastien Anderie-Meyer
Auszug aus Die Legende von Marana von Bastien Anderie-Meyer
[Über den Text: In einer abenteuerlichen Welt voller Piraten, Gestaltwandler und Magie brechen der junge Luftmagier Zezaya und sein weltbewanderter Bruder Ikarus zu einer Reise zum Zentrum der Welt auf, um einen Magier zu finden, welcher Zezaya im Umgang mit seinen so verheißungsvollen wie gefährlichen Kräften unterrichten kann. Ihre Reise beginnt in einem einfachen Boot, mit welchem sie in einen schrecklichen Sturm geraten. Nachdem sie für Stunden gegen die Naturgewalten der See ankämpften, gelangten sie in das windstille Auge des über das Meer wütenden Hurrikans. Zezaya hofft, sie beide mithilfe seiner Kräfte vor dem Tod bewahren zu können.]
Er kniete im Boot, seine Beine unter das Sitzbrett gepresst, um später besseren Halt zu haben. Zezaya musste sich beeilen. Er versuchte, sich auf die Kraft zu konzentrieren, die er eben noch so intensiv gespürt hatte. Doch ein leichtes Prickeln auf seiner Haut lenkte ihn sofort wieder ab. Zezaya öffnete die Augen und sah auf seine Handflächen herab. Als er die Ursache für das Kribbeln erkannte, schauderte er. Mehr und mehr kleine Wassertröpfchen hatten sich auf seinen Armen, ja, auf seinem ganzen Körper gesammelt, und ein aufkommender, jetzt noch leichter Wind zerzauste ihm die Haare. Sie waren dem Rand des Sturmes schon unglaublich nahe. Schnell konzentrierte er sich wieder darauf, seine gesamte restliche Energie durch seinen Körper fließen zu lassen und in seinen Armen zu bündeln.
Seine Fähigkeiten hatte er noch nicht lange so ausgeprägt, dass er sie einigermaßen kontrollieren konnte. Inzwischen jedoch konnte er die Energie in sich spüren. Er verstand nichts von Magie, geschweige denn, dass er sie – bis auf seine eigenen Fähigkeiten, wenn es sich denn wirklich um Magie handeln sollte – je in irgendeiner Form gesehen oder kennengelernt hätte. Dementsprechend wusste der Junge auch nicht genau, was er eigentlich tat, wenn er Energiestöße über seine Hände abgab. Es fiel ihm schwer, es jemandem zu beschreiben. Zezaya bewegte die Kraft in seinem Körper, durch seinen Körper hindurch hin zu seinen Händen. Und das ausschließlich über seine Gedanken.
Dieses Mal benötigte er viel mehr Energie als jemals zuvor, denn er hatte vor, das Wasser des Sturmes zu verdrängen und zu teilen. Falls er es schaffen würde, ein Loch, einen Riss in dem aufgewühlten Wasser entstehen zu lassen, könnte das Boot hindurchfahren, ohne Schaden zu nehmen. Sie mussten nur dem Sturm unmittelbar um das windstille Zentrum herum entkommen, dann hätten sie tatsächlich noch eine minimale Aussicht darauf, all das unversehrt zu überstehen.
Es war furchtbar anstrengend, sich so sehr zu konzentrieren, dass er auch die Energie in den entferntesten Winkeln seines Körpers bewegen konnte. Irgendwie wusste Zezaya, dass das, was sich schon vorher angesammelt hatte, nicht ausreichen würde. Jetzt, wo er immer mehr Kraft aufbrachte und das erste Mal an all seinen Reserven zehrte, bemerkte er etwas, was ihm vorher nie aufgefallen war: eine merkwürdige unsichtbare Barriere in seinem Körper. Er hatte das seltsame Gefühl, sie würde ihn davon abhalten, an bestimmte Energien, die er entfernt wahrnehmen konnte, zu gelangen. Ja, sie hinderte ihn daran, verweigerte ihm, sie zu erreichen und zu bewegen. Doch er brauchte sie, er brauchte alle Stärke, die er hatte. Die Schranke sollte verschwinden und ihm endlich Zugang zu der Kraft ermöglichen, die sich dahinter befand. Aber sie ließ sich nicht überwinden. Wie eine riesige Mauer hielt sie ihn davon ab, die Energie hinter ihr zu erreichen. Je mehr er sich anstrengte, um nach dieser zu greifen, desto mehr hatte er das Gefühl, von der Barriere zurückgeschlagen zu werden. Unglaubliche Kopfschmerzen hielten ihn davon ab, es weiter zu versuchen. Zezaya war an seine Grenzen gestoßen.
Wasser spritzte überall um sie herum und versperrte ihm jede weitere Sicht. Der Wind peitschte aus allen Richtungen. Sein Ziel lag vor ihm, das war alles, was er wusste. Sein ganzer Körper zitterte, als er so noch mehr seiner Kraft in seine Arme leitete und dort zusammenpresste. Zezaya war sich sicher, dass er sofort in die Knie hätte gehen müssen, wenn er nicht bereits gesessen hätte. Er fühlte sich schwach und müde, hatte aber gleichzeitig den Eindruck, stärker als jemals zuvor zu sein. Der Junge konnte sich das nicht erklären. Es war das Merkwürdigste, das er je erlebt, das er je gespürt hatte. Der Druck auf seinen Armen war gigantisch, sie brannten förmlich. Zezaya war sich sicher, dass sie jede Sekunde aufplatzen und zerreißen würden, wenn er auch nur noch unmerklich mehr Energie hinzufügte. Er musste die massive Ansammlung, diese immense Fülle an Energie unter Kontrolle halten, er musste ihr standhalten, er durfte dem immer quälenderen Drang, sie einfach entweichen zu lassen, nicht nachgeben. Noch nicht! Sein eigenes Leben und das von Ikarus hingen schließlich davon ab. Zezaya konnte jetzt keine Schwäche zulassen, wenn doch, würden sie beide sterben!
„JETZT!“ Ikarus’ laute Stimme ließ ihn die Augen aufreißen. Das Kommando war so deutlich, dass er sich gar nicht erst umsah, sondern sofort alle Energie freisetzte.
Direkt vor sich traf er auf einen gewaltigen Widerstand, der das meiste seiner Energie einfach abfing und in alle Richtungen von sich wegschlug. Unweigerlich warf ihn die Wucht zurück. Doch er spürte sofort, wie er abgefangen wurde. Ikarus kniete hinter ihm und hielt ihn an Schulter und Hüfte fest. So davor geschützt, über Bord des wieder stark schaukelnden Bootes zu fallen, war Zezayas Blick jetzt ausschließlich auf sein Ziel gerichtet. Trotz des übermächtigen Gegendrucks hielt er beide Hände krampfhaft nach vorne auf den Sturm gerichtet. All seine Energie prallte an der starken Wasserwand ab. Sie war undurchdringbar.
Es war ein riesiges Gewirr aus Regen, Wind und Wellen, das sich in unüberblickbaren Höhen direkt vor ihnen auftürmte. Zezaya wusste aus einem seiner Bücher, wie ein Hurrikan aussah. Aber es selbst zu erleben, sich selbst vor, sich selbst unter den gewaltigen Wassermassen zu befinden, war definitiv etwas ganz anderes. Seine Anspannung ließ ihn nicht einmal merken, dass er den Atem angehalten hatte.
Mehr und mehr Energie presste er aus seinen Händen, so viel, wie es gleichzeitig nur möglich war. Er versuchte, den Strom so lange konstant zu halten, wie er konnte. Doch wenn überhaupt, dann bewegte sich nur wenig Wasser zur Seite, welches einfach wieder von weiterem ersetzt wurde. Die Sekunden zogen sich schmerzlich hin. Es schien unendlich lange so weiterzugehen. Die starke Kraft, der Druck, der durch Zezayas Luftstrom entstand, wirkte nun nicht mehr nur auf ihn und seinen Bruder ein, sondern drückte auch das ganze Boot zurück. Der Wind, der das Meer so wild durcheinanderwirbeln ließ, erlaubte ihnen jedoch nicht, sich von dem riesigen Wasserwall zu entfernen. Im Gegenteil, das Boot wurde von der starken Strömung erfasst und jetzt geradewegs in den Sturm gezerrt. Sie schaukelten immer heftiger, mehr Wasser schwappte ins Boot, je näher sie der gigantischen Welle kamen. Allein durch den Sturm wurde diese am Ausbrechen gehindert und weiter in der Luft gehalten. Würden sie sie erst erreichen, würde das Boot sofort daran zerschellen.
Das spritzende Wasser machte Zezaya blind, der aus allen Richtungen peitschende Wund drohte, sie noch vor der Wand umzuwerfen. Durch das plötzliche, mühelose Entzweibrechen ihres kleinen Mastes, welcher erbarmungslos von der Wucht des Sturmes und der Fluten mitgerissen wurde, sagte er ihnen das Unausweichliche voraus. Die jetzt so schlagartig aufkommende Erschöpfung zehrte immer mehr an Zezayas Kraft. Er spürte, dass er zunehmend schwächer wurde, verwarf den Gedanken aber sofort wieder, um sich stattdessen auf seine letzten Energiereserven zu konzentrieren. Er konnte die Barriere in sich zwar nicht lösen, zwang aber die für ihn erreichbaren Stellen seines Körpers, mehr Energie, als sie besaßen, abzugeben. Es hing alles von ihm ab. Gebündelt stieß er den letzten Energiestrom von sich ab.
Dann plötzlich geschah es. Das Wasser sprang förmlich zur Seite, der Wind, weggestoßen von Zezayas eigenem Luftstoß, teilte sich und gab ein gigantisches Loch in der riesigen Welle frei. Ohne den starken Widerstand, auf den sein Energiestrom vor Kurzem noch getroffen war, dem er sich so krampfhaft entgegengestellt hatte, wurde der Junge direkt nach hinten geschleudert. Heftig stieß er gegen irgendetwas, das ihn davor bewahrte, über den Rand des Bootes zu fallen. Hinter sich hörte er ein dumpfes Platschen, das jedoch sofort im Tosen des Meeres um sie herum unterging. Er konnte sich nicht umwenden, um nachzusehen, er benötigte seine volle Konzentration, um den Energiefluss weiter aufrechtzuerhalten. Ein bisschen noch!
Das Boot wurde von der schnellen, jetzt durch ihn schlagartig umgelenkten Strömung weiter mitgerissen und bewegte sich mit zunehmender Geschwindigkeit durch das von ihm geschaffene Loch. Ich muss es nur noch ein bisschen länger halten!
„Gleich!“ Er biss die Zähne aufeinander. „Gleich haben wir’s geschafft!“
Zezaya erhielt keine Antwort. Er zögerte, schaffte es dann aber, sich umzudrehen, als der Sturm schwächer wurde. Zu seinem Entsetzten war dort nichts außer dem Wasser, das hinter ihm wieder zu der einzigen großen Welle zusammenfiel und ihn weiter von der Gefahrenzone wegstieß.
Seine Augen weiteten sich, und er vergaß ganz, die nun schon kleineren Wellen um sich herum von sich fernzuhalten. Vorhin, als er nach hinten gefallen war …
… Ich habe Ikarus vom Boot gestoßen!
~
Zezaya blinzelte mehrmals hintereinander. Er lag noch immer im Boot, wusste aber nicht, wo sich dieses befand. Es bewegte sich nicht mehr. Er musste irgendwo gestrandet sein. Aber es war ihm auch egal.
Er hatte Ikarus ins Wasser gestoßen.
Aus Versehen, aber er hatte es getan. Mitten im Sturm. Mitten im Hurrikan. Zezaya hatte das ganze Meer abgesucht, bis zur Heiserkeit nach ihm gerufen, aber ohne Erfolg. Von seinem Bruder fehlte jede Spur.
Er hatte sich nicht mehr lange wach halten können, so sehr er auch dagegen angekämpft hatte. Seine ganze Energie war verbraucht worden, sodass er schließlich ohnmächtig geworden war. Das Boot war von der Strömung weitergezerrt worden, bis es ihn schließlich nach einigen Komplikationen aus dem Sturm gebracht hatte. Es war einfach weitergefahren. Ohne Segel und Ruder, ohne Kontrolle und ohne Ziel. Nur weg. Immer weiter, immer weiter weg.
Ich habe ihn zurückgelassen. Zezaya hielt das Doppelschwert seines Bruders fest umklammert. Wie durch ein Wunder war es die ganze Zeit über im Boot geblieben. Das Schwert. Aber nicht Ikarus. Ihm kamen erneut die Tränen. Das hatte er nicht gewollt. So hatte sich Zezaya seine Reise nicht vorgestellt. Es sollte ein Abenteuer werden. Sein großes, spannendes Abenteuer. Aber jetzt war Ikarus weg. Zezaya wollte es sich nicht eingestehen, aber ein schmerzender Gedanke ließ ihn nicht mehr los. Er wischte sich die Tränen aus den Augen, verschaffte so aber nur neuen, nachkommenden Platz. Die ganze Zeit hatte er über mögliche Ereignisse nachgedacht, die hätten passiert sein können, als er geschlafen hatte. Auswege gesucht, die ihm Hoffnung gegeben hätten. Aber ihm war nichts eingefallen. Nichts. Rein gar nichts.
Er drehte sich zur Seite, zog die Beine weit nach oben an und kauerte sich so zusammen. Er presste das Schwert fester an sich, während seine Tränen unaufhaltsam weiterflossen. Zezaya konnte diesen Gedanken einfach nicht vertreiben.
Ikarus ist tot.
Jetzt verstand er, wieso seine Eltern immer so besorgt gewesen waren. Er hätte auf sie hören und warten sollen, bis er älter war. Nein, er hätte niemals losgehen dürfen! Schließlich konnte er seine Kraft ja einigermaßen kontrollieren. Wieso hatte er noch wissen wollen, woher sie kam? Wieso wollte er nur unbedingt wissen, wer er war? Wieso hatte er nur so dringend auf dieser Reise bestanden? Egal was der Grund gewesen war, jetzt war er verschwunden.
Ohne Ikarus wollte Zezaya nicht weiter. Sein Abenteuer war beendet. Nein … Es war nie ein Abenteuer gewesen.
In dem Moment wurde Zezaya bewusst, dass er keiner der Helden aus seinen Büchern war. Helden, die einfach von Abenteuer zu Abenteuer stolperten und die wunderlichsten Sachen erlebten. Helden, die er immer so sehr geliebt und gleichzeitig beneidet hatte. Jene, die mit reinem Herzen und eisernem Willen ein Ziel verfolgten und dafür alles, sogar ihr Leben aufs Spiel setzten. Sie hatten es immer geschafft, es zu erreichen. Jene, die sich allem widersetzen konnten und durch Stärke, Tapferkeit und Mut immer gewannen, obwohl zu Beginn niemand an sie geglaubt hatte. Zezaya war nicht einmal im Ansatz wie sie, auch wenn er sich beim Antritt seiner Reise genauso gefühlt hatte. Er war von ihnen immer so begeistert gewesen, aber jetzt konnte er nicht mehr verstehen, wie sie nie aufgaben, obwohl sie ständig mit dem Tod konfrontiert wurden. Er konnte das nicht verkraften und einfach weiter auf sein Ziel zustreben, als wäre nichts geschehen. Zezaya wollte jetzt nicht aufstehen und weitergehen, er wollte keinen neuen Mut fassen, sondern einfach nur hier liegen und weinen. Das richtige Leben war kein Abenteuer. Und erst recht war das richtige Leben keine einfache Geschichte aus irgendeinem Buch. Sein Bruder war tot. Ikarus war tot, und er würde nicht einfach wieder lebendig werden, wenn man ein paar Seiten zurückblätterte. Und es war alles seine Schuld.
Plötzlich hörte er entfernte Schritte.